Drehgestellarten

Schienenfahrzeuge weisen im Vergleich zu Straßenfahrzeugen sehr unterschiedliche Bauarten des Fahrwerks auf. Liefen die Eisenbahnwagen anfangs auf zwei oder drei festen Achsen, setzte sich rasch das Drehgestell durch, ursprünglich auch „Drehschemel“ genannt. Dabei handelt es sich im Prinzip um einen kurzen Zwei- oder Dreiachser, der unter dem Fahrzeugrahmen beweglich montiert ist.

Ähnlich war die Entwicklung bei den Triebfahrzeugen, die heute großteils in Drehgestellbauart ausgeführt sind. Feste – doch für den Kurvenlauf teilweise seitenverschiebbare und über die Federung in geringem Maße radial einstellbare – Radsätze gibt es noch bei Kleinloks, Rangierfahrzeugen, Güterwagen und natürlich bei vielen historischen Fahrzeugen. 

Y25 Drehgestell - Spiralfeder
Y25 Drehgestell
© Plasser & Theurer

Bei Drehgestellen sind die Radsätze in einem unter dem Hauptrahmen drehbar gelagerten, zusätzlichen Drehgestellrahmen geführt, was in mehrfacher Hinsicht vorteilhaft ist:

  • Zum einen kann das Drehgestell bei jeder Kurvenfahrt gegenüber dem Hauptrahmen ausdrehen. Der geringe Achsabstand erlaubt daher das Befahren engerer Gleisbögen (also kleinerer Radien), als mit zwei starren Radsätzen zwängungsfrei möglich wäre. Somit kann die Gesamtlänge des Fahrzeuges wachsen und ist im Bogen nur durch das Lichtraumprofil begrenzt.
  • Der zweite Vorteil ist die erreichbare Laufruhe: Die bei der Fahrt unvermeidlichen Stöße senkrecht und quer zum Gleis werden zunächst im Drehgestell ausgeglichen und nur abgeschwächt (halbiert) an den Hauptrahmen weitergegeben.
  • Mit Drehgestellen lässt sich zudem die Radsatzlast gegenüber einer Einzelachse reduzieren. In Verbindung mit dem besseren Kurvenlauf kann dies erheblich zur Schonung der Gleisanlage beitragen.    

Abgesehen von den grundsätzlichen Eigenschaften, sind Drehgestelle für Lokomotiven, Triebzüge, Reisezug- und Güterwagen sowie für U- und Stadtbahnen jedoch unterschiedlich konstruiert. Nur so können sie allen Anforderungen an Fahrgeschwindigkeit und Komfort, Tragfähigkeit und Radsatzlast, Entgleisungssicherheit und Laufruhe gerecht werden. Es gibt daher eine fast unüberschaubare Anzahl unterschiedlicher Drehgestellbauarten. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass auch viele Zweiwegefahrzeuge („Straße-Schiene“) und selbst Magnetbahnen auf speziellen Drehgestellen geführt werden.

Eisenbahn-Drehgestelle laufen in der Regel auf zwei oder mehr Radsätzen. In selteneren Fällen gibt es auch Einzelachs- und sogar Losrad-Drehgestelle, die allerdings eine besondere mechanische Ansteuerung für den Kurvenlauf erfordern. Vier- und mehrachsige Drehgestelle werden aufgrund der bei normalen Raddurchmessern entstehenden Länge zumeist aus Gruppen zwei- oder dreiachsiger Rahmen gebildet, die wiederum in einem gemeinsamen, ebenfalls ausdrehbaren Brückenrahmen geführt werden. Zu finden sind solche Konstruktionen insbesondere unter Gleisbaumaschinen und Schwerlast-Transportwagen oder Kranfahrzeugen. Der zusätzliche Brückenrahmen vermeidet Probleme bei der Kurvenfahrt ebenso wie hinsichtlich der höchstzulässigen Radsatzlast, beansprucht aber Bauraum. Bei ausgesprochenen Kleinrad-Drehgestellen, wie sie unter Niederflurwagen für LKW-Transporte zu finden sind, ist auch eine vier- bis fünfachsige Ausführung möglich, ohne dass der Gesamt-Achsstand zu groß wird. Hat das Drehgestell mehr als zwei Radsätze, so werden die Spurkränze der zwischen den Endachsen liegenden Radscheiben geschwächt oder entfallen ganz, für die Spurführung sind sie nicht wesentlich. 

Flachwagen mit Einzelachsen im Baustelleneinsatz
Flachwagen mit Einzelachsen im Baustelleneinsatz
© Plasser & Theurer

Grundsätzlich unterscheiden sich Drehgestelle nach der Bauweise ihres Rahmens. Beim Außenrahmen-Drehgestell umgreift der Rahmen die Radsätze. Aus praktischen Erwägungen und Platzgründen sind Außenrahmen auch bei Schmalspurfahrzeugen verbreitet, da es sonst zwischen den Rahmenwangen sehr eng würde. Unterschieden wird auch nach der Position der Radsatzlager. In der Regel befinden sie sich auf den sogenannten Achsstummeln, also außerhalb der Radscheiben. Bei Innenrahmen-Drehgestellen liegen sie zwischen den Radscheiben auf den Radsatzwellen, was sowohl eine geringere Stützweite als auch eine andere Biegebelastung des Radsatzes zur Folge hat. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Lager hier für Wartungsarbeiten schwerer zugänglich sind.  

Der Drehgestellrahmen kann in „H-Form“ oder in „O-Form“ ausgelegt sein,je nach Draufsicht. Die insbesondere als Außenrahmen anzutreffende O-Form ist dabei deutlich starrer als die H-Form. Eine Abwandlung der H-Form, die bereits ein leichtes Verschränken beider Radsätze gegeneinander erlaubt, ist das „Three Piece Bogie“. Bei diesem elastischen Drehgestell sind die zwei äußeren Längswangen mit den Achslagern zusätzlich gegen den zentralen Querträger vertikal verdrehbar. Das hat Vorzüge bei ausgesprochen schlechter Gleislage und überträgt weniger Nick- und Wankbewegungen auf den Hauptrahmen.

Drehgestell mit Blattfedern und Schaken - Blattfedern
H-Drehgestell mit Blattfedern und Schaken
© Plasser & Theurer

Das klassische Drehgestell weist eine zentrale Drehpfanne auf, in der ein unter dem Fahrzeugboden befestigter Drehzapfen die Verbindung herstellt. Rein vertikale Kräfte übernehmen die seitlichen Gleitplatten, wo der Hauptrahmen beidseits auf dem Drehgestellrahmen ruht. Während Drehgestelle für Güterwagen zumeist nur eine Federungsebene haben – Abfederung der Achslager gegen den Rahmen –, gibt es bei Drehgestellen für Reisezugwagen und Triebfahrzeuge in der Regel eine zweite Federungsebene – Drehgestell gegen Hauptrahmen. Die vielfältigen konstruktiven Lösungen reichen von querliegenden Blattfederpaketen über Schraubenfedern bis hin zu komfortablem Luftfederungen. Konstruktionselement dabei kann die sogenannte Wiege sein, ein Querträger, der drehbar unter dem Hauptrahmen und mittig im Drehgestell gelagert ist. Bei wiegenlosen oder drehzapfenlosen Drehgestellen werden die Fahrwerke beispielsweise über querelastische Schraubenfedern geführt, die das erforderliche Verdrehen im Radius zulassen.  

Angetriebene Drehgestelle gibt es für alle Arten der Kraftübertragung, lediglich bei der inzwischen nur noch historischen Dampftraktion waren sie wegen Problemen bei der Dampfführung sehr selten. Bei der Elektrotraktion – also auch bei dieselelektrischen Fahrzeugen – kann jedem angetriebenen Radsatz ein Motor zugeordnet sein (Einzelachsantrieb) oder die Radsätze sind über einen zentralen Motor (Längsantrieb) verbunden. Der Tatzlagermotor wiederum stützt sich mit einer Seite auf dem Radsatz ab, andererseits ist er am Drehgestellrahmen aufgehängt. Moderne Lösungen sind der Einzelradantrieb, der zwei Einzelrädern einer Seite zugeordnete Motor oder der – im Schnellverkehr – komplett im Fahrzeugrahmen aufgehängte Motor. Straßenbahnen können heute auch getriebelose Radnabenantriebe direkt in oder an der Radscheibe aufweisen. Bei Diesel- wie bei Elektrotriebfahrzeugen mit Hauptmotor kann die direkte Verbindung zwischen Lokomotivrahmen und Drehgestell von Zug- und Druckkräften befreit werden, indem eine separate Zugstange den Kraftfluss vermittelt. Bei dieselmechanischen Fahrzeugen wird eine Kardanwelle zwischen Hauptgetriebe und Achsgetriebe arbeiten, hydraulische Antriebe können auch direkt am Radsatz angreifen. Eine spezielle, heute nicht mehr übliche Bauform ist das Maschinendrehgestell, bei dem der Verbrennungsmotor im Drehgestell montiert ist. Für die Antriebe der Radsätze im Drehgestell gilt generell, dass auch hier die Variantenvielfalt immer größer wird, je nach den Erfordernissen der Einsatzbereiche.

Für den Lauf der Fahrzeuge wie für die Erhaltung der Gleislage wesentlich ist, die ungefederten Massen möglichst klein zu halten. Heute geht es dabei fast nur mehr um die Masse des Radsatzes, gegebenenfalls mit Getriebe oder Bremsscheiben. Antriebe lassen sich über Gummielemente entkoppeln oder im Drehgestellrahmen aufhängen, bei Hochgeschwindigkeitsfahrzeugen auch im Hauptrahmen. Damit ist das Drehgestell von diesen Massen und während der Fahrt entstehenden Kräften teilweise oder sogar vollständig entlastet.

Eine Sonderform ist das Jakobsdrehgestell, das die einander zugewandten Enden zweier Wagenteile verbindet. Es können im Zugverband, insbesondere bei Triebzügen, mehrere Jakobsdrehgestelle aufeinanderfolgen. Zeitweise war diese Form weit überwiegend bei Straßenbahn-Gelenkwagen in Verwendung, ist längst aber auch bei der Eisenbahn zu finden: bei leichten Regional-Triebzügen, dem spanischen Gliederzug Talgo oder Hochgeschwindigkeitszügen nach Art des französischen TGV. Auch lange Gelenk-Güterwagen (zweiteilige und in anderen Ländern auch mehrteilige Containertragwagen) macht diese Bauart möglich.

Beim Jakobsdrehgestell, benannt nach dem Eisenbahningenieur Wilhelm Jakobs (1858–1942) und von diesem schon 1901 zum Patent angemeldet, liegen auf dem Drehgestellrahmen zwei Wagenkästen auf, es gibt also auch jeweils zwei außermittige Drehpunkte. Diese Bauweise kann Gewicht sparen und trägt zu einem noch ruhigeren Lauf der Wagenschlange bei. Außerdem wird der gegenseitige Versatz der Wagenenden bei Kurveneinfahrt und -ausfahrt eliminiert, was im Wagenübergang für Reisende oder unter Autotransportwagen sehr willkommen sein kann. Jakobsdrehgestelle gibt es auch in motorisierter Form. In der Werkstatt – bei nur dort möglicher Trennung der Einheit – werden allerdings stets Hilfskonstruktionen zur Stützung eines der beiden normalerweise aufliegenden Wagenteile erforderlich. 

Weitere Besonderheiten richten sich nach dem jeweiligen Einbauort des Drehgestells. Bei hohen Fahrgeschwindigkeiten sind seitlich zwischen Wagenkasten und Fahrwerk angreifende Schlingerdämpfer sinnvoll. Handelt es sich um Doppelstockwagen (hohe Schwerpunktlage), können in das Drehgestell integrierte Wankstützen/Wankkompensatoren sinnvoll sein, um den Fahrkomfort auch für oben sitzende Fahrgäste sicherzustellen. Bei Lokomotiven wiederum, insbesondere jenen mit höherer Leistung, sollte für Triebdrehgestelle eine Tiefanlenkung vorgesehen werden. Hier stützt sich der Hauptrahmen möglichst tief im Drehgestell ab, also in geringerem Abstand zur Schienenoberkante, was Schleudern oder sogar Abheben der jeweils hinteren Antriebsachse (Zugkraftabfall, starker Schienenverschleiß) infolge Radsatzentlastung während des Anfahrvorganges vermeiden hilft.

Schlingerdämpfer
Schlingerdämpfer
© Plasser & Theurer

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